Buchclub // Leserunde zu Unerhörte Stimmen von Elif Shafak

Bei der letzten Buchmesse, die noch vor Corona stattfand, durfte ich die Autorin Elif Shafak kennenlernen und habe eine signierte Ausgabe ihres Romanes Unerhörte Stimmen bekommen. Viel zu lange lag dieses Buch auf meinem Stapel ungelesener Bücher, deshalb kam es in die engere Auswahl für das Buchclub-Buch im August und hat zum (Lese-)Glück vieler die Abstimmung gewonnen! Für einige war Unerhörte Stimmen das bisherige Jahreshighlight und auch ich muss sagen: Ein wahrlich toller Roman, dafür sprechen die vielen von mir angeführten Textstellen innerhalb dieser Rezension.

Am Ende des Blogbeitrags findet ihr einige Stimmen der Buchclub-Mitglieder.

Inhaltsangabe zu Unerhörte Stimmen von Elif Shafak

Dieser Text weist eine der interessantesten Strukturen auf, die mir bisher begegnet sind. Er gliedert sich in drei Teile: Geist, Körper und Seele. Im ersten Teil wird die Geschichte von Tequila Leila erzählt, die Erzählung setzt mit dem Tod der Protagonistin ein. Sie liegt kopfüber ermordet in einer Mülltonne und obwohl sie körperlich tot ist, lebt ihr Geist noch elf Minuten und 38 Sekunden weiter. Rückblenden erzählen im Minuten-Takt von Leilas Leben, Tochter von Binnaz, die jedoch nie ihre Mutter, sondern nur ihre Tante sein durfte. Sie wächst mit ihrem Vater, seinen zwei Frauen und ihrem Bruder auf und irgendwann bricht sie nach Istanbul auf, „die Stadt, in der alle Unzufriedenen und Träumer irgendwann landeten“ (Shafak 2019, S. 132). Dort wartet ein neues Leben auf sie, eines als Prostituierte. Sie findet die fünf besten Freunde ihres Lebens und die große Liebe D/Ali, aber auch den Tod.

Der zweite Teil erzählt von den fünf besten Freunden (Sabotage) Sinan, (Hollywood) Humeyra, (Nostalgie) Nalan, Zaynab(122) und Jamila, die nicht akzeptieren können, dass Leila auf dem Friedhof der Geächteten begraben wurde. Dieser Spannungsteil erzählt vom Abenteuer, welches sie eingehen, um Leila ihre letzte Ehre zu erweisen. Im dritten und sehr kurzen letzten Teil des Romans geht es um das Loslassen und darum, dass Leilas letzter Wunsch erfüllt wird.

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Meine Gedanken zum Roman

„Wissenschaftler weltberühmter Institutionen hatten in kurz zuvor verstorbenen Menschen anhaltende Hirnaktivitäten beobachtet, die in einigen Fällen nur wenige Augenblicke, in anderen bis zu zehn Minuten und achtunddreißig Sekunden anhielten.“

(Shafak 2019, S. 168)

In diesem Zitat steckt der Aufhänger der Erzählung und nicht umsonst heißt der Roman im Original 10 Minutes 38 Seconds in this Strange World. Damit hatte mich die Autorin bereits für sich gewonnen. Der erste Teil des Romans ist entsprechend interessant geschrieben und definitiv der stärkste des Buches, so empfanden es auch die Buchclub-Mitglieder. Es ist ein Roman, der es wirklich verdient hat, dass man sich intensiv damit auseinandersetzt, denn es stecken unfassbar viele Themen drin, die Aufmerksamkeit verdient haben. So ist auch der deutsche Titel gut gewählt mit Unerhörte Stimmen. Es wird von Menschen am Rande der Gesellschaft erzählt und von Orten am Rande der Stadt. Istanbul ist nicht nur Schauplatz, sondern auch die große Metapher stellvertretend für die Vielfalt. Es ist erstaunlich wie viele Themen die Autorin im Roman behandelt: Mutterschaft, Freundschaft, Identität, die Stellung der Frau, Umgang mit Behinderungen, Geschlechtsumwandlung, sexueller Missbrauch, Prostitution, Tod.

Die Zahl der fünf besten Freund*innen von Leila scheint ebenso nicht zufällig gewählt zu sein. Die Autorin zeigt an einer Stelle auf, dass diese Zahl eine besondere Bedeutung in vielen Religionen hat:

„Die Tora der Juden umfasste fünf Bücher. Jesus hatte man fünf schwere Wunden zugefügt, und der Islam ruhte auf den fünf Pfeilern des Glaubens. Mit fünf Steinen war Goliath von David getötet worden. Der Buddhismus lehrte die fünf Pfade, und Schiwa besaß fünf Gesichter, die in fünf verschiedene Richtungen blickten. Die chinesische Philosophie kreiste um die fünf Elemente Wasser, Feuer, Holz, Metall und Erde.“

(ebd., S. 256)

Teil 2 (Körper) liest sich beinahe wie ein Krimi, er ist völlig konträr zum ersten Teil (Geist) sehr humoristisch geschrieben. Darüber haben wir in der Buchclub-Abschlussdiskussion auch intensiv gesprochen, denn den meisten von uns hat der erste Teil deutlich besser gefallen. Doch auch hier möchte ich eine besondere Textstelle hervorheben, die einen interessanten Gedankengang der Figur D/Ali aufzeigt zum Thema Europa und die Friedhöfe. Er ist der Mann, der Leila regelmäßig bei der Arbeit besucht und sie schließlich heiratet.

„Irgendwann seien die Europäer auf die grandiose Idee gekommen, die Toten an den Rand der Städte zu bringen. […] Die neue Ordnung habe sich äußerst günstig ausgewirkt, denn seit sie keine Grabsteine mehr vor Augen gehabt hätten und nicht mehr Tag für Tag an die Kürze des Lebens und die göttliche Strenge erinnert worden seien, hätten die Europäer einen enormen Tatendrang entwickelt. […] Das alles und noch viel mehr sei möglich, sobald man sich nicht mehr von dem verstörenden Gedanken der eigenen Sterblichkeit ablenken lasse. […] Dass Millionen Istanbuler nur einen Bruchteil ihres Potentials ausschöpften, lag D/Ali zufolge an der enervierenden Allgegenwart von Gräbern.“

(ebd., S. 394f)

Lieblingstextstellen und Zitate aus Unerhörte Stimmen

„Leilas Meinung nach waren die meisten Leute an den Wendepunkten ihres Daseins viel zu ungeduldig. Sie nahmen automatisch an, dass man in dem Moment, in dem man ‚Ja‘ sagte, zack!, Ehefrau oder Ehemann war. Dabei dauerte es Jahre, das Verheirateten zu erlernen.“

(Shafak 2019, S. 12)

„Dort wo man sich am sichersten fühlt, gehört man manchmal am wenigsten hin.“

(ebd., S. 36)

„Sie konnte noch nicht wissen, dass das Ende der Kindheit nicht mit den körperlichen Veränderungen während der Pubertät einherging, sondern mit der plötzlich einsetzenden Fähigkeit, das eigene Leben mit den Augen eines Außenstehenden zu betrachten.“

(ebd., S. 69)

„Doch Hoffnung war ein gefährlicher chemischer Stoff, der in der Menschenseele Kettenreaktionen auslösen konnte.“

(ebd., S. 186)

„Zwar ließ sich eine liebevolle, glückliche Blutfamilie durch nichts ersetzen, doch wenn sie fehlte, konnte eine gute Wasserfamilie das Leid und den Schmerz fortschwemmen, die sich wie schwarzer Ruß im Inneren angesammelt hatten. So konnten Freunde einen ganz besonderen Platz im Herzen einnehmen und wichtiger sein als die gesamte Verwandtschaft.“

(ebd., S. 280)

„Istanbul war eine Illusion, ein misslungener Zaubertrick, ein Traum, der nur in den Köpfen von Haschischessern existierte. Denn in Wahrheit gab es kein Istanbul, sondern viele Istanbuls, die, immer in dem Wissen, dass am Ende nur eines überleben würde, miteinander stritten, konkurrierten und kollidierten.“

(ebd., S. 284)

„‚[…] Immer wurde ihr gesagt, sie müsse etwas gegen ihre Depressionen unternehmen. Aber ich glaube, wenn wir etwas als unseren Feind betrachten, machen wir es nur stärker. Das ist wie ein Bumerang. Man schleudert ihn mit aller Kraft weg, aber er kommt zurück und trifft einen mit derselben Wucht. Vielleicht solltest du dir deine Depression zur Freundin machen […]. Du bist nicht deine Depression. Du bist viel mehr als deine Stimmung heute oder morgen.'“ – Leila zu Humeyra

(ebd., S. 297)

„Wenn Paris die Stadt der Liebe, Jerusalem als die Stadt Gottes und Las Vegas als die Stadt der Sünde galt, so war Istanbul die Stadt des Multitasking.“

(ebd., S. 348)

Meinungen der Buchclub-Mitglieder

werden laufend ergänzt

Throwback: Bloggertreffen auf der Frankfurter Buchmesse 2019

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